Goethe-Gedichte

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Inhaltsverzeichnis

1. Wanderers Sturmlied
1, 5, 10, 15, 20, 25, 30, 35, 40, 45, 50, 55, 60, 65, 70, 75, 80, 85, 90, 95, 100, 105, 110, 115
2. Prometheus
1, 5, 10, 15, 20, 25, 30, 35, 40, 45, 50, 55, 60
3. Wandrers Nachtlied
4. Ein Gleiches
5. Erlkönig
1, 5, 10, 15, 20, 25, 30
6. Ilmenau
1, 5, 10, 15, 20, 25, 30, 35, 40, 45, 50, 55, 60, 65, 70, 75, 80, 85, 90, 95, 100, 105, 110, 115, 120, 125, 130, 135, 140, 145, 150, 155, 160, 105, 170, 175, 180, 185, 190
7. Metamorphose der Pflanzen
1, 5, 10, 15, 20, 25, 30, 35, 40, 45, 50, 55, 60, 65, 70, 75, 80
8. Urworte. Orphisch
1, 5, 10, 15, 20, 25, 30, 35, 40
9. Hegire
1, 5, 10, 15, 20, 25, 30, 35, 40
10. Selige Sehnsucht
1, 5, 10, 15, 20
11. Trilogie der Leidenschaft
An Werther 1, 5, 10, 15, 20, 25, 30, 35, 40, 45, 50
Elegie 1, 5, 10, 15, 20, 25, 30, 35, 40, 45, 50, 55, 60, 65, 70, 75, 80, 85, 90, 95, 100, 105, 110, 115, 120, 125, 130, 135
Aussöhung 1, 5, 10, 15
12. Vermächtnis
1, 5, 10, 15, 20, 25, 30, 35, 40

Wanderers Sturmlied

1 Wen du nicht verlässest Genius
Nicht der Regen nicht der Sturm
Haucht ihm Schauer übers Herz
Wen du nicht verlässest Genius
5 Wird der Regenwolk
Wird dem Schlossensturm
Entgegen singen
Wie die Lerche
Du dadroben
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10 Den du nicht verlässest Genius
Wirst ihn heben übern Schlammpfad
Mit den Feuerflügeln
Wandeln wird er
Wie mit Blumenfüßen
15 Über Deukalions flutschlamm
Python tötend, leicht, groß
Pythius Apollo.
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Dem du nicht verlässest Genius
Wirst die wollnen Flügel unterspreiten
20 Wenn er auf dem Felsen schläft
Wirst mit Hüterfittigen ihn decken
In des Haines Mitternacht
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Wen du nicht verlässest Genius
Wirst im Schneegestöber
25 Wärmumhüllen
Nach der Wärme ziehen sich Musen
Nach der Wärme Charitinnen
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Umschwebt mich ihr Musen!
Ihr Charitinnen!
30 Das ist Wasser, das ist Erde
Und der Sohn des Wassers und der Erde
Über den ich wandle
Göttergleich.
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Ihr seid rein wie das Herz der Wasser
35 Ihr seid rein wie das Mark der Erde
Ihr umschwebt mich und ich schwebe
Über Wasser über Erde
Göttergleich.
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__________
Soll der zurückkehren
40 Der kleine schwarze feurige Bauer.
Soll der zurückkehren, erwartend
Nur deine Gaben Vater Bromius
Und helleuchtend umwärmend Feuer,
Der kehren mutig?
45 Und ich den ihr begleitet
Musen und Charitinnen all
Den alles erwartet was ihr
Musen und Charitinnen
Umkränzende Seligkeit
50 Rings ums Leben verherrlicht habt,
Soll mutlos kehren?
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Vater Bromius
Du bist Genius
Jahrhunderts Genius
55 Bist, was innre Glut
Pindarn war,
Was der Welt
Phöb Apoll ist.
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Weh! Weh! Innre Wärme
60 Seelen Wärme,
Mittelpunkt!
Glüh entgegen
Phöb Apollen.
Kalt wird sonst
65 Sein Fürstenblick
Über dich vorübergleiten
Neidgetroffen
Auf der Zeder Grün verweilen
Die zu grünen
70 Sein nicht harrt
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__________
Warum nennt mein Lied dich zuletzt
Dich von dem es begann,
Dich von dem es begann,
Dich in dem es endet
Dich aus dem es quillt
75 Jupiter Pluvius!
Dich! dich strömt mein Lied
Und Castalischer Quell
Rinnt ein Nebenbach
Rinnet müßigen
80 Sterblich Glücklichen
Abseits von dir
Der du mich fassend deckst
Jupiter Fluvius.
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Nicht am Ulmenbaum
85 Hast du ihn besucht,
Mit dem Taubenpaar
In dem zärtlichen Arm
Mit der freundlichen Ros umkränzt
Tändlenden ihn blumenglücklichen
90 Anakreon,
Sturmatmende Gottheit.
Nicht im Pappelwald
An des Sibaris Strand
An des Gebürges
95 Sonnebeglänzter Stirn nicht
Faßtest du ihn.
Den bienensingenden
Honiglallenden
Freundlichwinkenden
100 Theokrit.
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Wenn die Räder rasselten
Rad an Rad, rasch ums Ziel weg
Hoch flog
Siegdurchglühter
105 Jünglinge Peitschenknall
Und sich Staub wälzt'
Wie vom Gebürg herab
Kieselwetter in's Tal,
Glühte deine Seel Gefahren Pindar!
110 Mut! - Glühte? -
Armes Herz!
Dort auf dem Hügel
Himmlische Macht
Nur so viel Glut
115 Dort meine Hütte
Dort hin zu waten!
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(FA I 1, S. 195-198)

Prometheus

1 Bedecke deinen Himmel Zeus
Mit Wolkendunst!
Und übe Knabengleich
Der Disteln köpft
5 An Eichen dich und Bergeshöhn!
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte
Die du nicht gebaut,
10 Und meinen Herd
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
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Ich kenne nichts ärmers
Unter der Sonn als euch Götter
15 Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbet wären
20 Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
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Da ich ein Kind war
Nicht wußt wo aus wo ein
Kehrt mein verirrtes Aug
25 Zur Sonne als wenn drüber wär
Ein Ohr zu hören meine Klage
Ein Herz wie meins
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
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Wer half mir wider
30 Der Titanen Übermut
Wer rettete vom Tode mich
Von Sklaverei?
Hast du's nicht alles selbst vollendet
Heilig glühend Herz
35 Und glühtest jung und gut
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden dadroben
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Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
40 Je des Beladenen
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
45 Und das ewige Schicksal
Meine Herrn und deine.
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Wähntest etwa
Ich sollt das Leben hassen
In Wüsten fliehn,
50 Weil nicht alle Knabenmorgen
Blütenträume reiften.
Hier sitz ich, forme Menschen
nach meinem Bilde
Ein Geschlecht das mir gleich sei
55 Zu leiden, weinen
Genießen und zu freuen sich
Und dein nicht zu achten
Wie ich!
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(FA I 1, S. 203-204)

Wandrers Nachtlied

Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest,
Ach! ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede!
Komm, ach komm in meine Brust!
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(FA I 2, S. 64)

Ein Gleiches

Über allen Gipfeln
Ist Ruh'
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.
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(FA I 2, S. 65)

Erlkönig

1 Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
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5 Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? -
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron' und Schweif? -
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. -
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»Du liebes Kind, komm, geh mit mir;
10 Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir,
Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.« -
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Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? -
15 Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. -
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»Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön:
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn,
20 Und wiegen und tanzen und singen dich ein.« -
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Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? -
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es genau;
Es scheinen die alten Weiden so grau. -
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25 »Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt!« -
Mein Vater, mein Vater, jetht faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! -
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Dem Vater grauset's, er reitet geschwind,
30 Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.
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(FA I 1, S. 303-304)

Ilmenau

am 3. September 1783
1 Anmutig Tal! du immergrüner Hain!
Mein Herz begrüßt euch wieder auf das Beste;
Entfaltet mir die schwerbehangnen Äste,
Nehmt freundlich mich in eure Schatten ein,
5 Erquickt von euren Höhn, am Tag der Lieb' und Lust,
Mit frischer Luft und Balsam meine Brust!
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Wie kehrt' ich oft mit wechselndem Geschicke,
Erhabner Berg! an deinen Fuß zurücke
O laß mich heut' an deinen sachten Höhn,
10 Ein jugendlich ein neues Eden sehn!
Ich hab' es wohl auch mit um euch verdienet:
Ich sorge still, indes ihr ruhig grünet.
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Laßt mich vergessen, daß auch hier die Welt
So manch Geschöpf in Erdefesseln hält,
15 Der Landmann leichtem Sand den Samen anvertraut
Und seinen Kohl dem frechen Wilde baut;
Der Knappe karges Brod in Klüften sucht;
Der Köhler zittert, wenn der Jäger flucht.
Verjüngt euch mir, wie ihr es oft getan,
20 Als fing' ich heut' ein neues Leben an.
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Ihr seid mir hold, ihr gönnt mir diese Träume,
Sie schmeicheln mir und locken alte Reime.
Mir wieder selbst, von allen Menschen fern,
Wie bad' ich mich in euren Düften gern!
25 Melodisch rauscht die hohe Tanne wieder,
Melodisch eilt der Wasserfall hernieder;
Die Wolke sinkt, der Nebel drückt ins Tal,
Und es ist Nacht und Dämmrung auf einmal.
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Im finstern Wald, beim Liebesblick der Sterne,
30 Wo ist mein Pfad, den sorglos ich verlor?
Welch seltne Stimmen hör' ich in der Ferne?
Sie schallen wechselnd an dem Fels empor:
Ich eile sacht zu sehn, was es bedeutet,
Wie von des Hirsches Ruf der Jäger still geleitet.
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35 Wo bin ich? ist's ein Zaubermärchen-Land?
Welch nächtliches Gelag am Fuß der Felsenwand?
Bei kleinen Hütten, dicht mit Reis bedecket,
Seh' ich sie froh an's Feuer hingestrecket.
Es dringt der Glanz hoch durch den Fichten-Saal;
40 Am niedern Herde kocht ein rohes Mahl;
Sie scherzen laut, indessen bald geleeret
Die Flasche frisch im Kreise wiederkehret.
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Sagt, wem vergleich ich diese muntre Schar?
Von wannen kommt sie? um wohin? zu ziehen.
45 Wie ist an ihr doch alles wunderbar!
Soll ich sie grüßen? soll ich vor ihr fliehen?
Ist es der Jäger wildes Geisterheer?
Sind's Gnomen, die hier Zauberkünste treiben?
Ich seh' im Busch der kleinen Feuer mehr;
50 Es schaudert mich, ich wage kaum zu bleiben.
Ist's der Ägyptier verdächtiger Aufenthalt?
Ist es ein flüchtiger Fürst wie im Ardenner-Wald?
Soll ich verirrter hier in den verschlungnen Gründen
Die Geister Shakspear's gar verkörpert finden?
55 Ja, der Gedanke führt mich eben recht:
Sie sind es selbst, wo nicht ein gleich Geschlecht!
Unbändig schwelgt ein Geist in ihrer Mitten,
Und durch die Roheit fühl' ich edle Sitten.
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Wie nennt ihr ihn? Wer ist's, der dort gebückt
60 Nachlässig stark die breiten Schultern drückt?
Er sitzt zunächst gelassen an der Flamme,
Die markige Gestalt aus altem Heldenstamme.
Er saugt begierig am geliebten Rohr,
Es steigt der Dampf an seiner Stirn empor.
65 Gutmütig trocken weiß er Freud' und Lachen
Im ganzen Zirkel laut zu machen,
Wenn er mit ernstlichem Gesicht
Barbarisch bunt in fremder Mundart spricht.
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Wer ist der andre, der sich nieder
70 An einen Sturz des alten Baumes lehnt,
Und seine langen feingestalten Glieder,
Ekstatisch faul, nach allen Seiten dehnt,
Und, ohne daß die Zecher auf ihn hören,
Mit Geistesflug sich in die Höhe schwingt,
75 Und von dem Tanz der himmelhohen Sphären
Ein monotones Lied mit großer Inbrunst singt?
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Doch scheinet allen etwas zu gebrechen.
Ich höre sie auf einmal leise sprechen,
Des Jünglings Ruhe nicht zu unterbrechen,
80 Der dort am Ende, wo das Tal sich schließt,
In einer Hütte, leicht gezimmert,
Vor der ein letzter Blick des kleinen Feuers schimmert,
Vom Waserfall umrauscht, des milden Schlafs genießt.
Mich treibt das Herz nach jener Kluft zu wandern,
85 Ich schleiche still und scheide von den Andern.
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Sei mir gegrüßt, der hier in später Nacht
Gedankenvoll an dieser Stelle wacht!
Was sitzest du entfernt von jenen Freuden?
Du scheinst mir auf was Wichtiges bedacht.
90 Was ist's, daß du in Sinnen dich verlierest,
Und nicht einmal dein kleines Feuer schürest?
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»O frage nicht! denn ich bin nicht bereit,
Des Fremden Neugier leicht zu stillen;
Sogar verbitt' ich deinen guten Willen;
95 Hier ist zu schweigen und zu leiden Zeit.
Ich bin dir nicht im Stande selbst zu sagen
Woher ich sei, wermich hierher gesandt;
Von fremden Zonen bin ich her verschlagen
Und durch die Freundschaft festgebannt.
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100 Wer kennt sich selbst? wer weiß was er vermag?
Hat nie der Mutige Verwegnes unternommen?
Und was du tust, sagt erst der andre Tag,
War es zum Schaden oder Frommen.
Ließ nicht Prometheus selbst die reine Himmelsglut
105 Auf frischen Ton vergötternd niederfließen?
Und konnt' er mehr als irdisch Blut
Durch die belebten Adern gießen?
Ich brachte reines Feuer vom Altar;
Was ich entzündet, ist nicht reine Flamme,
110 Der Sturm vermehrt die Glut und die Gefahr;
Ich schwanke nicht, indem ich mich verdamme.
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Und wenn ich unklug Mut und Freiheit sang
Und Redlichkeit und Freiheit sonder Zwang,
Stolz auf sich selbst und herzliches Behagen;
115 Erwarb ich mir der Menschen schöne Gunst;
Dach ach! ein Gott versagte mir die Kunst,
Die arme Kunst, mich künstlich zu betragen.
Nun sitz' ich hier zugliech erhoben und gedrückt,
Unschuldig und gestraft, unschuldig und beglückt.
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120 Doch rede sacht! denn unter diesem Dach
Ruht all mein Wohl und all mein Ungemach:
Ein edles Herz, vom Wege der Natur
Durch enges Schicksal abgeleitet,
Das, ahnungsvoll, nun auf der rechten Spur
125 Bald mit sich selbst und bald mit Zauberschatten streitet,
Und was ihm das Geschick durch die Geburt geschenkt
Mit Müh' und Schweiß erst zu erringen denkt.
Kein liebevolles Wort kann seinen Geist enthüllen
Und kein Gesang die hohen Wogen stillen.
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130 Wer kann der Raupe, die am Zweige kriecht,
Von ihrem künft'gen Futter sprechen?
Und wer der Puppe, die am Boden liegt,
Die zarte Schale helfen durchzubrechen?
Es kommt die Zeit, sie drängt sich selber los
135 Und eilt auf Fittigen der Rose in den Schoß.
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Gewiß, ihm geben auch die Jahre
Die rechte Richtung seiner Kraft.
Noch ist bei tiefer Neigung für das Wahre
Ihm Irrtum eine Leidenschaft.
140 Der Vorwitz lockt ihn in die Weite,
Kein Fels ist ihm zu schroff, kein Steg zu schmal;
Der Unfall lauert an der Seite
Und stürzt ihn in den Arm der Qual.
Dann treibt die schmerzlich überspannte Regung
145 Gewaltsam ihn bald da bald dort hinaus,
Und von unmutiger Bewegung
Ruht er unmutig wieder aus.
Und düster wild an heitren Tagen,
Unbändig ohne froh zu sein,
150 Schläft er, an Seel' und Leib verwundet und zerschlagen
Auf einem harten Lager ein:
Indessen ich hier still und atmend kaum
Die Augen zu den freien Sternen kehre,
Und, halb erwacht und halb im schweren Traum,
155 Mich kaum des schweren Traums erwehre.«
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Verschwinde Traum! Wie dank' ich, Musen, euch!
Daß ihr mich heut auf einen Pfad gestellet,
Wo auf ein einzig Wort die ganze Gegend gleich
Zum schönsten Tage sich erhellet;
160 Die Wolke flieht, der Nebel fällt,
Die Schatten sind hinweg. Ihr Götter, Preis und Wonne!
Es leuchtet mir die wahre Sonne,
Es lebt mir eine schönre Welt;
Das ängstliche Gesicht ist in die Luft zerronnen,
165 Ein neues Leben ist's, es ist schon lang begonnen.
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Ich sehe hier, wie man nach langer Reise
Im Vaterland sich wieder kennt;
Ein ruhig Volk in stillem Fleiße
Benutzen, was Natur an Gaben ihm gegönnt.
170 Der Faden eilet von dem Rocken
Des Webers raschem Stuhle zu;
Und Seil und Kübel wird in längrer Ruh
Nicht am verbrochenen Schachte stocken;
Es wird der Trug entdeckt, die Ordnung kehrt zurück,
175 Es folgt Gedeihn und festes ird'sches Glück.
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So mög', o Fürst, der Winkel deines Landes
Ein Vorbild deiner Tage sein!
Du kennest lang' die Pflichten deines Standes
Und schränkest nach und nach die freie Seele ein.
180 Der kann sich manchen Wunsch gewähren,
Der kalt sich selbst und seinem Willen lebt;
Allein wer Andre wohl zu leiten strebt,
Muß fähig sein, viel zu entbehren.
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So wandle du - der Lohn ist nicht gering -
185 Nicht schwankend hin, wie jener Sämann ging,
Daß bald ein Korn, des Zufalls leichtes Spiel,
Hier auf den Weg, dort zwischen Dornen fiel;
Nein! streue klug wie reich, mit männlich steter Hand;
Den Segen aus auf ein geackert Land;
190 Dann laß es ruhn: die Ernte wird erscheinen
Und Dich beglücken und die Deinen.
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(FA I 2, S. 334-340)

Metamorphose der Pflanzen

1 Dich verwirret Geliebte die tausendfältige Mischung
Dieses Blumengewühls über dem Garten umher,
Viele Namen hörest du an und immer verdränget,
Mit barbarischem Klang, einer den andern im Ohr,
5 Alle Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der andern
Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz,
Auf ein heiliges Rätsel. O! könnt ich dir, liebliche Freundin,
Überliefern soglieich glücklich das lösende Wort.
Werdend betrachte sie nun, wie, nach und nach sich die Pflanze
10 Stufenweise geführt, bilde zu Blüten und Frucht.
Anfang Home Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Erde
Stille befeuchtender Schoß hold in das Leben entläßt,
Und dem Reize des Lichts, des heiligen, ewig bewegten,
Gleich den zartesten Bau keimender Blätter empfiehlt.
15 Einfach schlief in dem Samen die Kraft, ein beginnendes Vorbild
Lag verschlossen in sich unter die Hülle gebeugt:
Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos,
Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,
Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend
20 Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht.
Anfang Home Aber einfach bleibt die Gestalt der ersten Erscheinung,
Und so bezeichnet sich auch unter den Pflanzen das Kind.
Gleich darauf ein folgender Trieb, sich erhebend, erneuet
Knoten auf Knoten getürmt, immer das erste Gebild,
25 Zwar nicht immer das gleiche, denn mannigfaltig erzeugt sich
Ausgebildet, du siehsts, immer das folgende Blatt,
Ausgedehnet, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile
Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ.
Und so erreicht es zuerst die höchst bestimmte Vollendung,
30 Die bei manchem Geschlecht dich zum Erstaunen bewegt.
Anfang Home Viel gerippt und gezackt, auf mastig strotzender Fläche
Scheinet die Fülle des Triebs frei und unendlich zu sein.
Doch hier hält die Natur, mit mächtigen Händen, die Bildung
An, und lenket sie sanft in das Vollkommnere hin.
35 Mäßiger leitet sie nun den Saft, verengt die Gefäße
Und gleich zeigt die Gestalt zärtere Wirkungen an.
Stille zieht sich der Trieb der strebenden Ränder zurücke,
Und die Rippe des Stiels bildet sich völliger aus.
Blattlos aber und schnell erhebt sich der tärtere Stengel
40 Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an.
Anfang Home Rings im Kreise stellet sich nun, gezählet und ohne
Zahl, das kleinere Blatt neben dem ähnlichen hin.
Um die Achse bildet sich so der bergende Kelch aus,
Der zur höchsten Gestalt farbige Kronen entläßt.
45 Also prangt die Natur in hoher, voller Erscheinung
Und sie zeiget, gerecht, Glieder an Glieder gestuft,
Immer erstaunst du aufs neue soblad sich am Stengel die Blume,
Über dem schlanken Gerüst wechselnder Blätter bewegt.
Aber die Herrlichkeit wird des neuen Schaffens Verkündung.
50 Ja, das farbige Blatt fühlet die göttliche Hand,
Anfang Home Und zusammmen zieht es sich schnell, die zärtesten Formen
Wickeln sich zwiefach hervor, sich zu vereinen bestimmt.
Traulich stehen sie nun, die holden Paare, beisammen,
Zahlreich reihen sie sich um den geweihten Altar,
55 Hymen schwebet herbei und herrliche Düfte, gewaltig,
Strömen süßen Geruch alles belebend umher.
Nun vereinzelt schwellen sogleich unzählige Keime,
Hold in den Mutterschoß schwellender Früchte gehüllt.
Und hier schließt die Natur den Ring der ewigen Kräfte,
60 Doch ein neuer sogleich fasset den vorigen an;
Anfang Home Daß die Kette sich fort durch alle Zeiten verlänge,
Und das Ganze belebt so wie das Einzelne sei.
Nun Geliebte wende den Blick zum bunten Gewimmel,
Das verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt.
65 Jede Pflanze winket dir nun die ewgen Gesetze,
Jede Blume sie spricht lauter und lauter mit dir.
Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern,
Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug.
Kriechend zaudre die Raupe, der Schmetterling eile geschäftig,
70 Bildsam ändre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt.
Anfang Home O! gedenke denn auch wie, aus dem Keim der Bekanntschaft,
Nach und nach in uns holde Gewohnheit ersproß,
Freundschaft sich mit Macht aus unserm innern enthüllte,
Und wie Amor zuletzt Blüten und Früchte gezeugt.
75 Denke wie mannigfach bald diese bald jene Gestalten,
Still entfaltend, Natur unsern Gefühlen geliehn,
Freue dich auch des heutigen Tags! die heilige Liebe
Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf,
Gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmonischem Anschaun
80 Sich verbinde das Paar finde die höhere Welt.
Anfang Home
(FA I 1, S. 639-641)

Urworte. Orphisch

1 ΔΑΙΜΩΝ, Dämon
Wie an dem Tag, der diech der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen,
Nach dem Gesetz wonach du angetreten.
5 So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form die lebend sich entwickelt.
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ΤΥΧΗ, Das Zufällige
Die strenge Grenze doch umgeht gefällig
10 Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt;
Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig,
Und handelst wohl so wie ein andrer handelt:
Im Leben ist's bald hin- bald wiederfällig,
Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.
15 Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet,
Die Lampe harrt der Flamme die entzündet.
Anfang Home
ΕΡΩΣ, Liebe
Die bleibt nicht aus! - Er stürzt vom Himmel nieder,
Wohin er sich aus alter Öde schwang,
Er schwebt heran auf luftigem Gefieder
20 Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,
Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder,
Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.
Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen.
Anfang Home
ΑΝΑΓΚΗ, Nötigung
25 Da ist's denn wieder wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
30 Dem harten Muß bequemt sich Will' und Grille.
So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren
Nur enger dran als wir am Anfang waren.
Anfang Home
ΕΛΠΙΣ, Hoffnung
Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer
Höchst widerwärt'ge Pforte wird entriegelt,
35 Sie stehe nur mit alter Felsendauer!
Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt:
Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer
Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt,
Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen;
40 Ein Flügelschlag - und hinter uns Äonen!
Anfang Home
(FA I 2, S. 501-502)

Hegire

1 Nord und West und Süd zersplittern,
Throne bersten, Reiche zittern,
Flüchte du, im reinen Osten
Patriarchenluft zu kosten,
5 Unter Lieben, Trinken, Singen,
Soll dich Chisers Quell verjüngen.
Anfang Home
Dort, im Reinen und im Rechten,
Will ich menschlichen Geschlechten
In des Ursprungs Tiefe dringen,
10 Wo sie noch von Gott empfingen
Himmelslehr' in Erdesprachen,
Und sich nicht den Kopf zerbrachen.
Anfang Home
Wo sie Väter hoch verehrten,
Jeden fremden Dienst verwehrten;
15 Will mich freun der Jugendschranke:
Glaube weit, eng der Gedanke,
Wie das Wort so wichtig dort war,
Weil es ein gesprochen Wort war.
Anfang Home
Will mich unter Hirten mischen,
20 An Oasen mich erfrischen,
Wenn mit Caravanen wandle,
Schawl, Caffee und Moschus handle.
Jeden Pfad will ich betreten
Von der Wüste zu den Städten.
Anfang Home
25 Bösen Felsweg auf und nieder
Trösten Hafis deine Lieder,
Wenn der Führer mit Entzücken,
Von des Maulthiers hohem Rücken,
Singt, die Sterne zu erwecken,
30 Und die Räuber zu erschrecken.
Anfang Home
Will in Bädern und in Schenken
Heil'ger Hafis dein gedenken,
Wenn den Schleyer Liebchen lüftet,
Schüttlend Ambralocken düftet.
35 Ja des Dichters Liebeflüstern
Mache selbst die Huris lüstern.
Anfang Home
Wolltet ihr ihm dies beneiden,
Oder etwa gar verleiden;
Wisset nur, daß Dichterworte
40 Um des Paradieses Pforte
Immer leise klopfend schweben,
Sich erbittend ew'ges Leben.
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(FA I 3.1, S. 12-13)

Selige Sehnsucht

1 Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend'ge will ich preisen
Das nach Flammentod sich sehnet.
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5 In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Ueberfällt dich fremde Fühlung
Wenn die stille Kerze leuchtet.
Nicht mehr bleibest du umfangen
10 In der Finsterniß Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.
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Keine Ferne macht dich schwierig
Kommst geflogen und gebannt,
15 Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt,
Anfang Home Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
20 Auf der dunklen Erde.
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(FA I 3.1, S. 24 f.)

Trilogie der Leidenschaft

An Werther

1 Noch einmal wagst du, vielbeweinter Schatten,
Hervor dich an das Tageslicht,
Begegnest mir auf neubeblümten Matten
Und meinen Anblick scheust du nicht.
5 Es ist, als ob du lebtest in der Frühe,
Wo uns der Tau auf Einem Feld erquickt,
Und nach des Tages unwillkommner Mühe
Der Scheidesonne letzter Strahl entzückt;
Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren,
10 Gingst du voran – und hast nicht viel verloren.
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Des Menschen Leben scheint ein herrlich Los:
Der Tag wie lieblich, so die Nacht wie groß!
Und wir, gepflanzt in Paradieses Wonne,
Genießen kaum der hocherlauchten Sonne,
15 Da kämpft sogleich verworrene Bestrebung
Bald mit uns selbst und bald mit der Umgebung;
Keins wird vom andern wünschenswert ergänzt,
Von außen düsterts, wenn es innen glänzt,
Ein glänzend Äußres deckt ein trüber Blick,
20 Da steht es nah – und man verkennt das Glück.
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Nun glauben wirs zu kennen! Mit Gewalt
Ergreift uns Liebreiz weiblicher Gestalt:
Der Jüngling, froh wie in der Kindheit Flor,
Im Frühling tritt als Frühling selbst hervor,
25 Entzückt, erstaunt, wer dies ihm angetan?
Er schaut umher – die Welt gehört ihm an.
Ins Weite zieht ihn unbefangne Hast,
Nichts engt ihn ein, nicht Mauer, nicht Palast;
Wie Vögelschar an Wäldergipfeln streift,
30 So schwebt auch er, der um die Liebste schweift,
Er sucht vom Äther, den er gern verläßt,
Den treuen Blick, und dieser hält ihn fest.
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Doch erst zu früh und dann zu spät gewarnt,
Fühlt er den Flug gehemmt, fühlt sich umgarnt.
35 Das Wiedersehn ist froh, das Scheiden schwer,
Das Wieder-Wiedersehn beglückt noch mehr,
Und Jahre sind im Augenblick ersetzt;
Doch tückisch harrt das Lebewohl zuletzt.
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Du lächelst, Freund, gefühlvoll wie sich ziemt:
40 Ein gräßlich Scheiden machte dich berühmt;
Wir feierten dein kläglich Mißgeschick.
Du ließest uns zu Wohl und Weh zurück;
Dann zog uns wieder ungewisse Bahn
Der Leidenschaften labyrinthisch an;
45 Und wir, verschlungen wiederholter Not,
Dem Scheiden endlich – Scheiden ist der Tod!
Wie klingt es rührend, wenn der Dichter singt,
Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt!
Verstrickt in solche Qualen, halbverschuldet,
50 Geh ihm ein Gott, zu sagen, was er duldet.

Elegie

Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt
Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.

1 Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen,
Von dieses Tages noch geschlossner Blüte?
Das Paradies, die Hölle steht dir offen;
Wie wankelsinnig regt sichs im Gemüte! –
5 Kein Zweifel mehr! Sie tritt ans Himmelstor,
Zu ihren Armen hebt sie dich empor.
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So warst du denn im Paradies empfangen,
Als wärst du wert des ewig schönen Lebens;
Dir blieb kein Wunsch, kein Hoffen, kein Verlangen,
10 Hier war das Ziel des innigsten Bestrebens,
Und in dem Anschaun dieses einzig Schönen
Versiegte gleich der Quell sehnsüchtiger Tränen.
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Wie regte nicht der Tag die raschen Flügel,
Schien die Minuten vor sich her zu treiben!
15 Der Abendkuß, ein treu verbindlich Siegel:
So wird es auch der nächsten Sonne bleiben.
Die Stunden glichen sich im sanften Wandern,
Wie Schwestern zwar, doch keine ganz den andern.
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Der Kuß, der letzte, grausam süß, zerschneidend
20 Ein herrliches Geflecht verschlungner Minnen –
Nun eilt, nun stockt der Fuß, die Schwelle meidend,
Als trieb ein Cherub flammend ihn von hinnen;
Das Auge starrt auf düstrem Pfad verdrossen,
Es blickt zurück: die Pforte steht verschlossen.
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25 Und nun verschlossen in sich selbst, als hätte
Dies Herz sich nie geöffnet, selige Stunden
Mit jedem Stern des Himmels um die Wette
An ihrer Seite leuchtend nicht empfunden;
Und Mißmut, Reue, Vorwurf, Sorgenschwere
30 Belasten's nun in schwüler Atmosphäre.
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Ist denn die Welt nicht übrig? Felsenwände,
Sind sie nicht mehr gekrönt von heiligen Schatten?
Die Ernte, reift sie nicht? Ein grün Gelände,
Zieht sichs nicht hin am Fluß durch Busch und Matten?
35 Und wölbt sich nicht das überweltlich Große,
Gestaltenreiche, bald Gestaltenlose?
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Wie leicht und zierlich, klar und zart gewoben
Schwebt, seraphgleich, aus ernster Wolken Chor,
Als glich es ihr, am blauen Äther droben
40 Ein schlank Gebild aus lichtem Dunst empor;
So sahst du sie in frohem Tanze walten,
Die lieblichste der lieblichen Gestalten.
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Doch nur Momente darfst dich unterwinden
Ein Luftgebild statt ihrer festzuhalten;
45 Ins Herz zurück! dort wirst du's besser finden,
Dort regt sie sich in wechselnden Gestalten:
Zu Vielen bildet Eine sich hinüber,
So tausendfach, und immer, immer lieber.
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Wie zum Empfang sie an den Pforten weilte
50 Und mich von dannauf stufenweis beglückte,
Selbst nach dem letzten Kuß mich noch ereilte,
Den letzesten mir auf die Lippen drückte:
So klar beweglich bleibt das Bild der Lieben
Mit Flammenschrift ins treue Herz geschrieben.
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55 Ins Herz, das fest, wie zinnenhohe Mauer,
Sich ihr bewahrt und sie in sich bewahret,
Für sie sich freut an seiner eignen Dauer,
Nur weiß von sich, wenn sie sich offenbaret,
Sich freier fühlt in so geliebten Schranken
60 Und nur noch schlägt, für alles ihr zu danken.
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War Fähigkeit zu lieben, war Bedürfen
Von Gegenliebe weggelöscht, verschwunden,
Ist Hoffnungslust zu freudigen Entwürfen,
Entschlüssen, rascher Tat sogleich gefunden!
65 Wenn Liebe je den Liebenden begeistet,
Ward es an mir aufs lieblichste geleistet;
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Und zwar durch sie! – Wie lag ein dumpfes Bangen
Auf Geist und Körper, unwillkommner Schwere,
Von Schauerbildern rings der Blick umfangen
70 Im wüsten Raum beklommner Herzensleere;
Nun dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle:
Sie selbst erscheint in milder Sonnenhelle.
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Dem Frieden Gottes, welcher euch hienieden
Mehr als Vernunft beseliget – wir lesens –
75 Vergleich ich wohl der Liebe heitern Frieden
In Gegenwart des allgeliebten Wesens;
Da ruht das Herz, und nichts vermag zu stören
Den tiefsten Sinn: den Sinn, ihr zu gehören.
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In unsers Busen Reine wogt ein Streben,
80 Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten;
Wir heißens: fromm sein! – Solcher seligen Höhe
Fühl ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.
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85 Vor ihrem Blick wie vor der Sonne Walten,
Vor ihrem Atem wie vor Frühlingslüften,
Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten,
Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften;
Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert,
90 Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert.
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Es ist, als wenn sie sagte: Stund um Stunde
Wird uns das Leben freundlich dargeboten
Das Gestrige ließ uns geringe Kunde,
Das Morgende – zu wissen ist verboten!
95 Und wenn ich je mich vor dem Abend scheute,
Die Sonne sank und sah noch, was mich freute.
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Drum tu wie ich und schaue, froh verständig
Dem Augenblick ins Auge! Kein Verschieben!
Begegn ihm schnell, wohlwollend wie lebendig,
100 Im Handeln sei's, zur Freude, sei's dem Lieben!
Nur wo du bist, sei alles immer kindlich,
So bist du alles, bist unüberwindlich.«
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Du hast gut reden, dacht ich: zum Geleite
Gab dir ein Gott die Gunst des Augenblickes,
105 Und jeder fühlt an deiner holden Seite
Sich Augenblicks den Günstling des Geschickes;
Mich schreckt der Wink, von dir mich zu entfernen –
Was hilft es mir, so hohe Weisheit lernen!
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Nun bin ich fern! Der jetzigen Minute,
110 Was ziemt denn der? Ich wüßt es nicht zu sagen.
Sie bietet mir zum Schönen manches Gute;
Das lastet nur, ich muß mich ihm entschlagen
Mich treibt umher ein unbezwinglich Sehnen,
Da bleibt kein Rat als grenzenlose Tränen.
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115 So quellt denn fort und fließet unaufhaltsam –
Doch nie geläng's, die innre Glut zu dämpfen!
Schon rasts und reißt in meiner Brust gewaltsam –
Wo Tod und Leben grausend sich bekämpfen.
Wohl Kräuter gäbs, des Körpers Qual zu stillen;
120 Allein dem Geist fehlts am Entschluß und Willen,
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Fehlts am Begriff: wie sollt er sie vermissen?
Er wiederholt ihr Bild zu tausend Malen.
Das zaudert bald, bald wird es weggerissen,
Undeutlich jetzt und jetzt im reinsten Strahlen.
125 Wie könnte dies geringstem Troste frommen,
Die Ebb und Flut, das Gehen wie das Kommen?
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Verlaßt mich hier, getreue Weggenossen,
Laßt mich allein am Fels, in Moor und Moos!
Nur immer zu! euch ist die Welt erschlossen,
130 Die Erde weit, der Himmel rein und groß;
Betrachtet, forscht, die Einzelheiten sammelt,
Naturgeheimnis werde nachgestammelt.
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Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren,
Der ich noch erst den Göttern Liebling war;
135 Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren,
So reich an Gütern, reicher an Gefahr;
Sie drängten mich zum gabeseligen Munde,
Sie trennen mich – und richten mich zugrunde.

Aussöhnung

1 Die Leidenschaft bringt Leiden! – Wer beschwichtigt
Beklommnes Herz, das allzuviel verloren?
Wo sind die Stunden, überschnell verflüchtigt?
Vergebens war das Schönste dir erkoren!
5 Trüb ist der Geist, verworren das Beginnen;
Die hehre Welt, wie schwindet sie den Sinnen!
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Da schwebt hervor Musik mit Engelschwingen,
Verflicht zu Millionen Tön um Töne,
Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen,
10 Zu überfüllen ihn mit ewger Schöne;
Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen
Den Doppelwert der Töne wie der Tränen.
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Und so das Herz erleichtert merkt behende,
Daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen,
15 Zum reinsten Dank der überreichen Spende
Sich selbst erwidernd willig darzutragen.
Da fühlte sich – o daß es ewig bliebe! –
Das Doppelglück der Töne wie der Liebe.
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(FA I 2, S. 456-462)

Vermächtnis

1 Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das Ew'ge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig; denn Gesetze
5 Bewahren die lebend'gen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.
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Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden,
Das alte Wahre, faß es an!
10 Verdank es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr die Sonne zu umkreisen
Und dem Geschwister wies die Bahn.
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Sofort nun wende dich nach innen,
Das Zentrum findest du da drinnen,
15 Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen,
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.
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Den Sinnen hast du dann zu trauen,
20 Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig,
Und wandle sicher wie geschmeidig
Durch Auen reichbegabter Welt.
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25 Genieße mäßig Füll' und Segen,
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendig,
30 Der Augenblick ist Ewigkeit.
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Und war es endlich dir gelungen,
und bist du vom Gefühl durchdrungen:
Was fruchtbar ist, allein ist wahr,
Du prüfst das allgemeine Walten,
35 Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schar.
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Und wie von alters her im stillen
Ein Liebewerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
40 So wirst du schönste Gunst erzielen:
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf.

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(FA I 2, S. 685f.)
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